Chemnitzer Forscher steuern Roboter mit Gesten

Die flache Hand in die Luft halten, ein Wischen nach links oder rechts – wie bei Spielkonsolen werden Roboter in Fabriken zukünftig berührungslos kontrolliert. Denn die industrielle Gestensteuerung ist nun marktreif. Entwickelt haben sie Forscherinnen und Forscher des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU. Sie basiert auf der intelligenten Kopplung optischer Sensoren, innovativer Bildverarbeitungsverfahren und berührungsloser Bedieninterfaces. Ihren Praxistest hat die Gestensteuerung im Automobilbau schon bestanden – bei der Volkswagen Sachsen GmbH in der Karosseriefertigung von Elektrofahrzeugen.

Wer zukünftig in Fabriken geht, in denen Produktionsroboter arbeiten, wird Menschen sehen, die ihre Arme und Hände vor sich in der Luft bewegen, ohne dass sie mit Kolleginnen oder Kollegen kommunizieren. Sie steuern mit diesen Gesten ihre Roboterkollegen. "Uns hat das bei der Entwicklung immer ans Dirigieren eines Chors oder Orchesters erinnert. Auch bei unserer Gesten­steuerung achten die Mitglieder des 'Ensembles', nämlich die Roboter, sehr genau auf Arm- und Handbewegungen", sagt Paul Eichler, Projektleiter in der Abteilung für Robotertechnik am Fraunhofer IWU. "Konventionelle Bedienelemente wie Knöpfe und Schalter werden überflüssig. Die Beschäftigten können sich ganz natürlich bewegen, um mit den Robotern zu interagieren – als würden sie einem anderen Menschen in der Fabrik per Handzeichen ein 'Stopp' oder eine Richtung anzeigen."

Damit die berührungsfreie Robotersteuerung funktioniert, haben die Fraunhofer-Forschenden eigens entwickelte Bahnplanungs-Algorithmen, smarte optische Sensoren, schnelle und stabile Bildverarbeitungsverfahren sowie frei platzierbare Bedieninterfaces aufeinander abgestimmt. "Unsere Technologie holt die Gestensteuerung in den Industriebereich. Viele Menschen kennen sie von zuhause, wo sie bisher hauptsächlich bei Computerspielen angewendet wird, etwa bei Konsolen für den Heimgebrauch. Die Bewegungen der Spielenden werden erfasst und sofort in Spielmanöver auf dem Bildschirm umgesetzt. Wir steuern hier jedoch keine Spielfiguren, sondern Maschinen und Anlagen", erklärt Dr.-Ing. Mohamad Bdiwi, Leiter der Abteilung für Robotertechnik am Fraunhofer IWU. "Zur unmittelbaren Steuerung sind Programmierkenntnisse nicht mehr nötig. Die Beschäftigten steuern die Roboter intuitiv."

    

Marktreife im Karosseriebau von E-Fahrzeugen bewiesen

Die Gestensteuerung von Industrierobotern ist technisch ausgereift und zuverlässig. Sie hält die geltenden Sicherheitsvorgaben für die Zertifizierung im Sinne der EU-Maschinen­richtlinie ein. Integriert sind auch Verfahren zur Anonymisierung. Da anfallende Daten zudem nicht in einer Cloud gespeichert, sondern vor Ort in der Fabrik verarbeitet werden, ist auch der Datenschutz nach der DSGVO gesichert.

Ihre Marktreife hat die Gestensteuerung im Automobilbau schon bewiesen – bei der Volkswagen Sachsen GmbH. Dort sieht man klare Vorteile bei der Herstellung des hochmodernen Modularen E-Antrieb-Baukastens (MEB). IWU-Projektleiter Paul Eichler: "Antrieb für unseren Partner war, die Ergonomie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Prüf- und Arbeitsstation am Ende der Ausschweißlinie im Karosseriebau zu verbessern. Wir haben gezeigt, dass unser System gestengesteuerter Schwerlast­roboter in der Fertigung viele Vorteile bringt. Die Gestensteuerung ermöglicht es den Beschäftigten, die Position und Ausrichtung des Roboters individuell und in feinen Abstufungen einzustellen. Die Produktion wird dadurch effizienter und flexibler."

Die Gestensteuerung erleichtert außerdem grundsätzlich die Kollaboration von Mensch und Roboter. Sie arbeiten mittlerweile zwar schon oft ohne Schutzzaun nebeneinander, aber eine direkte Interaktion war bisher nicht möglich. In unmittelbarer Nähe zu Menschen schalten sich Industrieroboter aus Sicherheitsgründen ab. Jetzt können beide gefahrlos direkt zusammenarbeiten.

   

Schwerpunkt "Cyber-Physical-Human Systems" am Standort Chemnitz

Produktionsroboter intuitiv mit Gesten zu steuern, ist ein Beispiel für die Innovationskraft des Standortes Chemnitz bei sog. "Cyber-Physical-Human Systems" (Mensch-Maschine-Systemen, kurz: CPHS). Das Fraunhofer IWU arbeitet dabei über die Grenzen wissenschaftlicher Fachdisziplinen hinweg intensiv mit der Professur für Allgemeine Psychologie und Human Factors an der Technischen Universität Chemnitz zusammen. Dort wird an der kognitionsbasierten Unterstützung von psychologischen Prozessen geforscht, sowie an deren Umsetzung in technische Systeme mittels Algorithmen der Künstlichen Intelligenz.

Dr. habil. Franziska Bocklisch, Leiterin der Professur, erklärt die gemeinsamen Forschungsziele mit dem Fraunhofer IWU: "Die enge Interaktion von Mensch und Technik in der Industrie 4.0 zeigt, wie wichtig es ist, Technik- und Humanwissenschaften zu kombinieren. Zukünftig werden viele weitere komplexe Aufgaben nur durch Mensch und Technik gemeinsam bewältigt werden können. Dabei stellen sich ganz neue Herausforderungen für eine menschenzentrierte Technik­entwicklung, etwa bei der zielgerichteten Unterstützung menschlicher Informations­verarbeitungsprozesse beim Bedienen und Warten von Produktionsanlagen. In Chemnitz haben wir das nötige transdisziplinäre Know-how gebündelt, um sicherzustellen, dass Mensch und Roboter im Fertigungsprozess harmonisch zusammenarbeiten können."