Smarte Kunstmuskeln in der Medizin

Nanowissenschaftler aus Chemnitz und Dresden entwickeln adaptive Mikroelektronik, die sich auf der Basis von Sensordaten selbständig bewegt und für Tätigkeiten gezielt ausrichten kann. Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig - in der Biomedizin oder als bioneurales Interface.

Die flexible und adaptive Mikroelektronik gilt als Innovationstreiber für neue und effektivere biomedizinische Anwendungen. Dazu gehören beispielsweise die Behandlung beschädigter Nervenbündel, chronischer Schmerzen oder die Steuerung künstlicher Gliedmaßen. Damit das funktioniert, ist ein enger Kontakt zwischen der Elektronik und dem neuronalen Gewebe für eine effektive elektrische und mechanische Kopplung unerlässlich. Darüber hinaus ergeben sich Anwendungsmöglichkeiten durch die Herstellung kleinster und flexibler chirurgischer Werkzeuge.

Ein internationales Team vom Institut für Integrative Nanowissenschaften am Leibniz-Institut für Festkörper- und Werkstoffforschung (IFW) Dresden und der Professur für Materialsysteme der Nanoelektronik an der Technischen Universität Chemnitz konnte nun erstmals zeigen, dass eine solche adaptive Mikroelektronik durch die Analyse von Sensorsignalen in der Lage ist, sich kontrolliert zu positionieren, biologisches Gewebe zu manipulieren und auf seine Umgebung zu reagieren. 

Bisher war es nicht möglich, dass mikroelektronische Strukturen sowohl ihre Umgebung wahrnehmen als auch sich daran anpassen können. So gibt es zwar Strukturen mit einem Dehnungssensor, die ihre eigene Form überwachen, Mikroelektronik mit magnetischen Sensoren, die sich im Raum orientieren oder Geräte, deren Bewegung durch elektroaktive Polymerstrukturen gesteuert werden können. Eine Kombination dieser Eigenschaften zur Anwendung in einem dynamischen sich verändernden Organismus im Mikrometer-Bereich, also deutlich unterhalb eines Millimeters, gab es bisher noch nicht.

Die Grundlage für diese Anwendungen bildet eine gerade mal 0.5 mm breite und 0.35 mm lange Polymerfolie, die als Träger für die mikroelektronischen Komponenten fungiert. Zum Vergleich: Ein 1-Cent-Stück hat einen Durchmesser von rund 16 mm. Das Team der TU Chemnitz und des Leibniz-Instituts IFW in Dresden stellt nun in ihrer Veröffentlichung eine adaptive und intelligente Mikroelektronik vor, die sich mittels mikroskopisch kleiner künstlicher Muskeln gezielt verformt und sich dank Sensoren an dynamische Umgebungen anpasst.

Dafür werden die Sensorsignale durch elektrische Verbindungen an einen Mikrocontroller geleitet, wo diese ausgewertet und genutzt werden, um Steuersignale für die künstlichen Muskeln zu erzeugen. Das ermöglicht es beispielsweise, dass sich diese Werkzeuge im Miniaturformat auch an komplexe und unvorhersehbare anatomische Formen anpassen können. So sind zum Beispiel Nervenbündel immer unterschiedlich groß. Die adaptive Mikroelektronik ermöglicht es nun, diese Nervenbündel schonend zu umschließen, um ein geeignetes bioneurales Interface zu etablieren.

Wesentlich dafür ist die Integration von Form- oder Positionssensoren in Kombination mit Mikroaktuatoren. Idealerweise wird die adaptive Mikroelektronik daher in einem sogenannten „monolithischen Wafer-Scale-Prozess“ hergestellt. Sogenannte „Wafer“ sind flache Unterlagen, zum Beispiel aus Silizium oder Glas, auf denen die Schaltkreise gefertigt werden. Durch die monolithische Fertigung können viele Bauteile gleichzeitig auf einer Unterlage parallel hergestellt werden. Das ermöglicht eine schnelle und zugleich kostengünstigere Fertigung.  

    

Künstliche Muskeln erzeugen Bewegung – Einsatz in organischer Umgebung möglich

Die Bewegung und Verformung der adaptiven Mikroelektronik erfolgt mittels künstlicher Muskeln, der sogenannten „Aktuatoren“. Dieser erzeugen durch den Ausstoß oder die Absorption von Ionen eine Bewegung und können so beispielsweise die Polymer-Folie verformen.

Grundlage dieses Prozesses ist der Einsatz des Polymers Polypyrrol (PPy). Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass eine Manipulation der Form gezielt und mit bereits sehr kleiner Vorspannung (unter einem Volt) erfolgen kann. Dass künstliche Muskeln auch für den Einsatz in organischen Umgebungen sicher sind, konnte bereits in der Vergangenheit von anderen Gruppen gezeigt werden. Dabei wurde die Leistungsfähigkeit der Mikromaschinen in verschiedenen für die medizinische Anwendung relevanten Umgebungen, darunter Hirnflüssigkeit, Blut, Plasma und Urin, getestet.

   

Grundlage für künftig noch komplexere mikroelektronische Roboter

Das Team aus Dresden und Chemnitz erwartet, dass die adaptive und intelligente Mikroelektronik mittelfristig zu komplexen robotischen Mikrosystemen entwickelt wird. Der entscheidende nächste Schritt ist der Übergang von der bisher flachen Architektur zu dreidimensionalen Mikro-Robotern. In früheren Arbeiten wurde demonstriert, wie sich flache Polymerfolien durch selbstorganisiertes Falten oder Rollen zu dreidimensionalen Strukturen umbilden. Nun sollen solche Materialien mit adaptiver Elektronik ausgestattet werden, um Systeme wie robotisierte Mikro-Katheter, kleinste Roboterarme und formbare neuronale Implantate zu entwickeln, die einer digitalen Instruktion folgend semi-autonom handeln.

Solche komplexen Mikroroboter werden eine Vielzahl einzelner Aktuatoren und Sensoren benötigen. Elektronische Komponenten in einer solchen Dichte effektiv unterbringen und nutzen zu können, stellt eine Herausforderung dar, weil mehr elektrische Verbindungen nötig sind als Platz vorhanden ist. Gelöst wird dies durch komplexe elektronische Schaltungen, die zukünftig in die adaptive Mikroelektronik integriert werden, um die entsprechenden Instruktionen an die richtigen Komponenten durchstellen zu können.

Die vorliegende Arbeit trägt auch zum aufkommenden Gebiet der Roboter-unterstützten Chirurgie bei, die weniger invasive und zugleich präzisere Eingriffe ermöglichen könnte. Intelligente chirurgische Werkzeuge, die zuverlässige Rückmeldung über ihre Form und Position generieren, könnten unverzichtbar bei der Behandlung von empfindlichem Gewebe werden.